In Großbritannien ist sie schon seit fast 30 Jahren etabliert, doch die deutschen Versicherer zieren sich bisher weitgehend: Die sogenannte Vorzugsrente soll mehr Gerechtigkeit schaffen, indem sie eine geringere Lebenserwartung infolge von Vorerkrankungen berücksichtigt.

Standard in der deutschen privaten Rentenversicherung ist derzeit eine starre, pauschale Lebenszeitannahme, auf deren Grundlage die Anbieter die garantierte Rente kalkulieren. Für Ruheständler, die aus gesundheitlichen Gründen mit größter Wahrscheinlichkeit hinter der statistischen Lebenserwartung zurückbleiben werden, bedeutet das einen finanziellen Nachteil.

Dieser soll mit der Vorzugsrente aufgewogen werden: Wer beispielsweise mit 63 Jahren als Herzinfarktpatient in Rente geht, könnte je nach Tarif mit einem rund 25-prozentigen Aufschlag rechnen. Aktuell arbeiten mehrere private deutsche Rentenversicherer – bisher haben nur zwei ein entsprechendes Angebot – an einer Integration des Vorzugsrenten-Prinzips in ihre Produkte.

Das Konzept der Vorzugsrente berührt einen zentralen Aspekt der Altersvorsorge: die Frage nach Fairness und individueller Risikoberücksichtigung. Während die deutsche Rentenversicherungslandschaft traditionell auf kollektiven Kalkulationsmodellen basiert, die sämtliche Versicherungsnehmer gleich behandeln, setzt die Vorzugsrente auf eine stärker personalisierte Betrachtung. Sie erkennt an, dass gesundheitliche Einschränkungen nicht nur den Alltag, sondern auch die Lebenserwartung erheblich beeinflussen können – und dass ein einheitliches Kalkulationsmodell zu systematischen Benachteiligungen führen kann.

In Großbritannien ist das Prinzip längst gelebte Praxis. Dort haben sich sogenannte „enhanced annuities“ fest etabliert und werden von einem Großteil der Versicherer angeboten. Die Erfahrung zeigt, dass Versicherungsnehmer mit relevanten Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzproblemen, schweren Lungenerkrankungen oder bestimmten Krebsdiagnosen oft deutlich höhere Rentenzahlungen erhalten als gesunde Gleichaltrige. Die Begründung ist nachvollziehbar: Wer statistisch weniger Rentenjahre vor sich hat, dem kann über höhere Monatsbeträge eine fairere Ausschüttung seines angesparten Kapitals ermöglicht werden.

In Deutschland stößt die Einführung einer solchen differenzierten Kalkulation jedoch nach wie vor auf Zurückhaltung. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen müssen Versicherer ihre Tarifkalkulationen grundlegend anpassen und umfangreiche medizinische und statistische Daten auswerten, um realistische Lebenserwartungsmodelle für verschiedene Krankheitsbilder zu entwickeln. Dies ist komplex, kostenintensiv und erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Aktuaren, Medizinern und Datenanalysten. Zum anderen stellt sich die Frage nach Transparenz und Akzeptanz: Viele Kunden würden eine detaillierte medizinische Prüfung möglicherweise als unangenehm oder gar diskriminierend empfinden, obwohl das Ziel der Vorzugsrente gerade die Herstellung von Gerechtigkeit ist.

Ein weiterer Diskussionspunkt betrifft die Versicherungsaufsicht. Die BaFin prüft derzeit, inwieweit das Modell mit bestehenden aufsichtsrechtlichen Anforderungen vereinbar ist und wie verhindert werden kann, dass es zu einer ungewollten Risikoselektion kommt. Denn klar ist: Wenn Vorzugsrenten verbreitet werden, müssen Versicherer sicherstellen, dass die Tarife finanziell stabil bleiben und keine Gruppe die Risiken der anderen ungleich trägt. Dies erfordert sorgfältige Kontrollen und eine solide aktuariell-statistische Grundlage.

Gleichwohl wächst der Druck auf die Branche, neue Wege zu gehen. Die alternde Bevölkerung und die steigende Zahl chronisch erkrankter Menschen machen deutlich, dass pauschale Modelle ihre Grenzen erreichen. Zudem steigt das Bewusstsein für individuelle Lösungen in der Altersvorsorge – nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Transparenz, die Vergleichsportale und digitale Beratungsangebote bieten. Viele Verbraucher empfinden es als ungerecht, wenn Menschen mit stark eingeschränkter Lebenserwartung jahrzehntelang in die Rentenversicherung einzahlen, am Ende aber nur über einen relativ kurzen Zeitraum Leistungen erhalten, ohne dass dies im Rentenbetrag berücksichtigt wird.

Die Vorzugsrente könnte hier für mehr Gerechtigkeit sorgen und zugleich einen Impuls für Wettbewerb und Innovation setzen. Versicherer, die frühzeitig entsprechende Tarife entwickeln, könnten sich gegenüber Mitbewerbern einen strategischen Vorteil sichern und neue Kundengruppen erschließen. Insbesondere Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, die bislang eher resigniert auf die Höhe ihrer voraussichtlichen Rentenleistungen blicken, könnten so spürbar entlastet werden.

Allerdings wird viel davon abhängen, wie klar, verständlich und sensibel die Versicherer das Thema kommunizieren. Eine transparente Erläuterung der Kriterien, eine faire Beurteilung medizinischer Daten und ein verantwortungsvoller Umgang mit Gesundheitsinformationen sind zentrale Voraussetzungen, um Vertrauen aufzubauen. Auch wäre eine begleitende öffentliche Diskussion sinnvoll, die Vorbehalte abbaut und den Zweck der Reform deutlich macht: Es geht nicht um Diskriminierung, sondern um Ausgleich.

Wenn sich das Modell durchsetzt, könnte es langfristig zu einem Paradigmenwechsel führen – weg von starren Kollektivannahmen hin zu einer stärker individualisierten, gerechteren Altersvorsorge. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die deutsche Versicherungsbranche diesen Schritt wagt und ob die politischen Rahmenbedingungen den Weg dafür ebnen.